Wenigstens seit der Bronzezeit träumt die Menschheit von einem Ort ohne Sorgen. Dies begann mit dem Paradies, versteckt in der mesopotamischen Wüste und bewacht von Engeln. Später variierten verschieden Denker die Idee, immer gemäß der vorherrschenden Ideenwelt: Platons perfekte Polis, Morus’ unentdecktes „Utopia“ und schließlich Donnelly’s vorzeitliches „Atlantis“. Heute gibt es auf der Erde keinen Platz mehr für eine perfekte Zuflucht, weshalb Utopisten sie auf’s Meer (Seasteading), in den Weltraum (Mars) oder den Cyberspace (Transhumanismus) verlegen.
In diesen perfekten Gesellschaften braucht es keine Politik, keine Kompromisse. Jegliche Änderung kann die Lage nur verschlechtern. Es herrscht eine Gleichheit der Gleichen. Dies setzt aber eine absolute Gleichheit voraus, es darf keine Ungleichheit geben – denn die für die Gleichen perfekte Gesellschaft verwandelt sich aus Sicht der Ungleichen in eine Dystopie: eine Gesellschaft, in der ihr Leben vollkommen fremdbestimmt wird.
Bei dieser Frage der Gleichheit kommt nun ein psychologischer Effekt zu tragen: die „Illusion der Vielfalt“. Wir nehmen unsere direkte Umwelt als extrem vielfältig wahr und überschätzen dadurch unseren Einblick in die Gesamtgesellschaft. Wir können nur die vertraute Ungleichheit erkennen, die bekannte Gleichheit und die unbekannte Ungleichheit bleiben unsichtbar.
Der Anspruch der eher anarcho-syndikalistischen Tech-Culture erforderte eine ständige Reflexion des eigenen Handelns. Derartige Reflexion erfordert aber Sicherheit und Muße - etwas, von dem prekär Beschäftigte nur träumen können.
Bei Mastodon kann man dies gerade live erleben: Die bisherigen Nutzer fühlten sich äußerst divers und dachten, sie hätte ein freundliches Umfeld für marginalisierte Gruppen erschaffen. Für queere Nutzer stimmte das auch. Nun kamen aber weitere marginalisierte Gruppen hinzu und stellten andere Anforderungen, was Streit verursachte (siehe: Mastodons Wachstumsschmerzen).
Die Neuankömmlinge nahmen Mastodon anders wahr: Sie sahen einen Club „nur für Tech-Bros“. Für sie überwogen die Ähnlichkeiten der bisherigen Nutzer: Fast alle hatten Ingenieurwesen oder Naturwissenschaft studiert, ein hohes Einkommen und Arbeitsplatzsicherheit. Es herrschte ein an technischen Maßstäben orientierter Diskussionsstil.
Die bisherigen Nutzer lebten in einer Utopie. Nun kamen Ungleiche und brachen in diese Utopie ein. Damit hörte sie auf, eine Utopie zu sein, und verwandelte sich in eine Polis. Plötzlich mussten Umgangsformen ausgehandelt werden. Die bisherige anarchistische Grundhaltung funktionierte nicht mehr. Die Gesellschaft hatte den unabhängigen Cyberspace erobert.
Auf diese Eroberung gab es zwei Reaktionen: Einmal die anarcho-kapitalistische, wie sie Peter Thiel und Elon Musk verkörpern. Sie versuchen, der kommenden Katastrophe durch eine Flucht in ein selbstgeschaffenes Utopia zu entgehen. Ihr Bestreben ist auf die Erschaffung dieser Arche gerichtet: Deshalb baut Musk Raketen, deshalb will er den Mars besiedeln. Deshalb investiert Peter Thiel in die Verschmelzung von Mensch und Maschine, deshalb will er autarke Seasteads errichten. Die Katastrophe lässt sich ihrer Meinung nach nicht abwenden. Diese prä-apokalyptische Haltung öffnet autoritären Bewegungen ein Tor.
Eine vollkommen andere Reaktion sieht man beispielhaft in Taiwan. Die Wertvorstellungen der dortigen Tech-Szene ähneln jener im Silicon Valley. Sie verstehen die Macher-Attitüde aber als Aufruf, sich in die Gesellschaft einzubringen und sie aktiv zu verbessern. Aber auch im Westen gibt es ähnliche Ansätze, etwa den Blog Netzpolitik oder „D64 – das Zentrum für digitalen Fortschritt“. Diese Richtung bringt sich stärker in demokratische Prozesse ein.
Die Tech-Szene steht nicht alleine vor dieser Entscheidung. Nahezu alle gesellschaftlichen Gruppen müssen ihre Prioritäten neu sortieren und ihre Rolle neu bestimmen. Aber die Tech-Szene kann sich ihnen auch nicht länger entziehen: Ihr Utopia lag die ganze Zeit im Nirgendwo.
Comments
December 27, 2022 04:55
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